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Gero Wollgarten Posts

Rezension: Stephan Lehnstaedt – Der Kern des Holocaust

Stephan Lehnstaedt liefert mit „Der Kern des Holocaust“ ein aktuelles Einführungswerk zur „Aktion Reinhardt“. Die letzte Einführung erschien 1988 in englischer Sprache von Yitshak Arad unter dem Titel „Belzec, Sobibor, Treblinka: The operation Reinhardt death camps“ und fasste den damals noch sehr rudimentären Kenntnisstand zusammen. Lehnstaedt war von 2010 bis 2016 Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut in Warschau. Seit 2016 bekleidet er die Professur für jüdische Studien und Holocaust Studien am Touro College Berlin.

Die „Aktion Reinhardt“ bezeichnet die Ermordung der Juden im Generalgouvernement unter Leitung des höheren SS- und Polizeiführers Odilo Globocnik. Dieser „Aktion“ fielen mindestens 1,8 Millionen Menschen zum Opfer. Der größte Teil unter ihnen waren polnische Juden aus dem Generalgouvernement. Doch auch deutsche, österreichische, niederländische und Juden aus anderen Ländern starben. Außerdem wurden etwa 2000 Sinti und Roma getötet, obwohl sie eigentlich nicht im Fokus der „Aktion“ standen. Die Tötung geschah in den reinen Vernichtungslagern in Treblinka, Sobibor und Belzec. Es gab insgesamt weniger als 150 Überlebende, in Belzec sogar nur fünf, die aus den Lagern berichten konnten. Bereits 1943 hatte Globocnik sein Ziel erreicht und das jüdische Leben im Generalgouvernement ausgelöscht. Die Lager wurden planiert und zur Vertuschung mit Wäldern bepflanzt.

Der MDR, die Wehrmacht und eine sinnentstellende Überschrift

Update 12.05.17 14:42: Der MDR hat die Überschrift in “Wehrmachtsgeneräle als Namenspatrone für Bundeswehr-Kasernen?” geändert.

tl;dr: Der MDR fragt einen Fachmann nach seiner Meinung zum Traditionserbe der Bundeswehr und bekommt eine wissenschaftliche Antwort. Diese Antwort ist aber nicht reißerisch genug und daher wird eine völlig sinnentstellende Headline für das Interview genutzt. Diese Überschrift geht komplett an den historischen Fakten vorbei.zeigt einen Screenshot vom Radio Interview mit Jochen Böhler

Der MDR führte gestern ein Telefoninterview mit dem Militärhistoriker Jochen Böhler. Er wurde befragt, wie die Bundeswehr in seinen Augen mit dem Traditionserbe der Wehrmacht umgehen sollte. Seine Antworten könnte man mit der klassischen Historikerantwort „Das muss man differenziert betrachten.“ zusammenfassen. Er stellt in Frage ob Kasernen weiterhin nach Wehrmachtsangehörigen benannt sein sollten und ob nach welchen Gesichtspunkten über eine Benennung entschieden werden sollte. In seinen Augen sollte diese Frage nicht in Hinblick auf militärische Erfolge, sondern vielmehr auf die Tauglichkeit zum demokratischen Vorbild untersucht werden. In diesem Zusammenhang spricht er von der Verteidigung von „Recht und Freiheit“. Er nutzt diese Worte im Verlauf des Interviews erneut. Der MDR strickte daraus folgende Überschrift:

Wehrmachtsangehörige kämpften teils für „Recht und Freiheit“

Dieses Zitat ist auf drei Ebenen falsch:

  1. Böhler hat es so nicht gesagt.
  2. Er sprach nie von kämpfen im Zusammenhang mit „Recht und Freiheit“. Bei der ersten Nennung sprach er von den Idealn „Recht und Freiheit“ und bei der Zweiten vom Einsatz für „Recht und Freiheit“.
  3. Die Zahl der Wehrmachtsangehörigen die sich tatsächlich für „Recht und Freiheit“ eingesetzt haben ist verschwindend gering. Wolfram Wette geht in „Retter in Uniform“ von ca. 100 Personen aus. Insgesamt versahen 18,2 Millionen Soldaten Dienst in der Wehrmacht.

Ein Beispiel für einen Wehrmachtssoldaten der sich für „Recht und Freiheit“ auszeichnete ist der Hauptmann Willy Schulz. Hier war das vorherrschende Motiv vermutlich die Liebe zu einer Jüdin aus einem ihm unterstellten Arbeitskommando. Am 31. März 1943 desertierte er mit einem Wehrmachts-LKW aus Minsk. Auf der Ladefläche befand sich das jüdische Arbeitskommando seiner Geliebten, insgesamt 25 Personen. [1]

Doch warum gibt es bei der Bundeswehr keine Willy-Schulz-Kaserne?

Einfache Antwort: Keine Armee der Welt kann eine Kaserne nach einem Deserteur benennen. Das passt schlicht nicht in das Bild von Befehl und Gehorsam. Gleiches gilt für Soldaten die sich Befehlen, beispielsweise zur Teilnahme an Massenerschießungen, widersetzten.

 

[1] Wette, Wolfram; Haase, Norbert (Hg.) (2002): Retter in Uniform. Handlungsspielräume im Vernichtungskrieg der Wehrmacht. Orig.-Ausg. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verl. (Die Zeit des Nationalsozialismus, 15221), S. 618

 

Eine verpasste historische Chance – #vimy100

Vor genau einer Woche nahm ich an der kanadischen Gedenkfeier anlässlich des 100. Jahrestages der Schlacht von Vimy teil. Die Bedeutung der Schlacht für die kanadische Historiografie und meine kritische Betrachtung habe ich bereits erläutert.

Doch wie verhielt sich nun das Erlebnis vor Ort zu meiner Erwartungshaltung?

Das Grundkonzept der Feier war sehr modern. Die Programmpunkte wurden in vier Akte gegliedert,  zwischen den Akten wurde aus Feldpostbriefen vorgelesen. Anglo-Kanadier, Franco-Kanadier und aboriginal people (die deutsche Übersetzung „Ureinwohner“ erscheint mir hier unpassend) waren als Musiker vertreten und sangen auf Englisch, Französisch und Inuktitut. Begleitet wurden sie dazu teilweise von einer Ausdruckstanz-Gruppe. Das militärische Protokoll war auf das Minimum reduziert, mehr Reduzierung ist bei staatlichen Gedenkfeiern leider nicht möglich.

Gelände nach Ende der Zeremonie

Doch ein modernes Konzept hilft nicht, wenn es dermaßen an der Realität vorbeigeht. Die Reden waren auf dem Niveau europäischer Gedenkfeiern in den 1920er Jahren. Die eigenen Opfer wurden betont, die eigene Nation hochgehalten und Soldaten zu Helden stilisiert, die für eine gute Sache gestorben sind. Das klang dann in der Rede von Justin Trudeau zum Beispiel so:

Consider:

The price they paid.

The burden they bore.

The country they made.

Christoph Cornelißen hat 2012 die antiquierte deutsche Erinnerungskultur folgendermaßen definiert:

„Dazu gehört, um nur wenige Beispiele zu nennen, das Schweigen über die konkreten Kriegserfahrungen sowie, eng damit verbunden, die Mythisierung des konkreten Kriegserlebnisses. Gleichermaßen sticht die starke Konzentration auf die jeweils „eigenen” Opfer ins Auge.“

Hier zeigt sich, dass die kanadische Erinnerungskultur irgendwie vor mindestens 70 Jahren stecken geblieben ist, zugunsten eines Mythos, der die Nation einen soll.